Liebe Jana
Ein Brief an die vielen Freunde, die sich ihrer moralischen Pflicht gegenüber dem schrecklichsten Verbrechen unserer Zeit entziehen
Translated from English by Salem El-Mogaddedi (Reviewed by Jürgen Stryak}
Liebe Jana,
es hat eine Weile gedauert, bis ich dazu gekommen bin, Dir zu schreiben. Das liegt vor allem daran, dass ich darüber nachgedacht habe, ob ich die Dinge so formulieren sollte, dass sie dich nicht verletzen, oder ob ich einfach ehrlich sein soll. Ich denke, wenn wir eines hatten, dann war es Ehrlichkeit. In der Vergangenheit war sie nie verletzend, doch ich schätze, das kann so nicht für immer bleiben. Ich glaube, dass ich uns beiden Unrecht tun würde, wenn ich um deiner Gefühle willen um den heißen Brei herumrede. Denn Du würdest die Chance verpassen, eine andere Perspektive zu verstehen, die viele Menschen dir nicht mitteilen würden, und ich würde deinem Ego Vorschub leisten. Das heißt nicht, dass ich verletzend sein möchte, aber wenn du dich beleidigt fühlst, dann nicht, weil ich beleidigend sein will, sondern weil ich ehrlich sein möchte.
Dein Wunsch Gaza aus deinem Leben zu verdrängen, um dein eigenes Leben zu genießen, ist das perfekte Beispiel für Kolonialismus. Der Preis deines Komforts ist die Kolonisierung anderer Nationen, der Mord an Menschen irgendwo anders – so die Sichtweise eines Soziologen. Und genau diesen Wunsch versucht die deutsche Regierung dir zu erfüllen. Proteste und Misshandlungen werden in der Berichterstattung ausgeblendet, Angriffe auf Journalist:innen, Anwältinnen und Anwälte, Frauen, Trans-Personen, Schwule, Lesben, Kinder – all das bleibt dir erspart, damit du dein Leben genießen kannst. Du wirst vor den Verbrechen Israels, die von deutschen Politiker:innen und deutschen Waffen unterstützt werden, geschützt; du wirst geschützt vor der Tatsache, dass mit deinem Steuergeld Menschen wie ich verprügelt werden und dass man ihnen das Leben schwer macht. Du wirst geschützt, weil du deine Tage und Nächte genießen möchtest, ohne an Gaza denken zu müssen. Du brauchst dir keine Gedanken zu machen, über den Preis deiner Rave-Partys angesichts des Leids von Kindern.
Ich denke, die einzige Unannehmlichkeit besteht darin, dass Menschen wie ich in deiner Nähe existieren. Mit unserer Anwesenheit erinnern wir dich daran, dass wir nicht sehr weit davon entfernt sind, dass Deutschland nicht nur am Völkermord an den Palästinenser:innen eine Mitschuld trägt, sondern auch, dass es seine eigenen Institutionen, Gesetze und Normen demontiert, um uns zu schaden.
Ich bin mir sicher, dass du nichts gegen mich persönlich hast. Ich bin intelligent, exotisch, belesen, dunkelhäutig, und du betrachtest mich als vollwertigen Menschen.
Wenn Du nicht ständig daran erinnert werden würdest, dass dein Schweigen Mitschuld bedeutet, dass deine proklamierten Ideale in der Realität scheitern, und dass deine Zugfahrten zwar Kohlenstoffemissionen einsparen, diese aber millionenfach durch F-16-Kampfflugzeuge wieder freigesetzt werden, die wahllos Bomben auf Kinder abwerfen.
Meine Präsenz in Deutschland bedroht dein Privileg, die Augen vor Gaza zu verschließen und sich mit progressiver, antikapitalistischer Rhetorik zu brüsten.
Meine Anwesenheit erinnert an die deutsche Komplizenschaft bei Massenmord, an Umweltschäden und an das völlige Fehlen von Reue über die Verbrechen Deutschlands in der heutigen Gesellschaft. Wie kannst du nach allem so tun, als würdest du Migrant:innen lieben, wenn du es nicht mal schaffst, gegen Menschen Stellung zu beziehen, die bei Anti-Afd-Demos Menschen mit arabischer Herkunft dazu auffordern, in ihr Herkunftsland zurückzukehren? Wie kannst du andere über Feminismus belehren, während du das einfache Ideal der Gleichheit und das Recht, nicht von deutscher Waffentechnik ermordet zu werden, verrätst? Wie können die Deutschen Vorbilder wie Baerbock haben, wenn sie ständig lügt, Waffen liefert und aktiv einen Völkermord unterstützt? (Vielleicht nicht du, aber andere Deutsche, die ich getroffen habe.)
Ich frage mich, ob die Anwesenheit von Menschen wie uns dazu führen könnte, dass Menschen wie du radikalisiert werden und keine Personen mit meinem Background mehr um sich haben wollen. Ich weiß, dass du noch weit davon entfernt bist, aber in meinem Kopf ist das nicht undenkbar.
Du möchtest bei unseren Treffen über andere Themen sprechen. Du möchtest den größten Völkermord unserer Zeit und mit deutscher Komplizenschaft, die massenhafte Verfolgung von Stimmen gegen den Völkermord, das ständige Lügen der Politiker:innen und die vollständige Dehumanisierung von Menschen wie mir ausklammern. Vielleicht können wir über Musik sprechen, zum Beispiel über Clubs und das "About Blank". Ups...Moment, wir dürfen nicht ansprechen, wie rassistisch der Club gegenüber Menschen wie mir ist. Was bleibt dann noch? Worüber sprechen wir dann? Das Wetter? Gut, lass uns darüber sprechen. Es tut mir leid, wenn ich äußere, wie mein eigenes Leben davon betroffen ist; ich möchte schließlich nicht, dass du dich unwohl fühlst.
Du fragst mich, was ich tun würde, wenn ich Du wäre mitsamt deinen weißen Privilegien!?
Du musst nicht mich fragen, es gibt viele Deutsche, die diese Frage besser beantworten können als ich. Sie engagieren sich unermüdlich Woche für Woche, stellen sich selbst in Frage, bilden sich weiter, lernen und verlernen, scheuen sich nicht vor der Wahrheit und treten mit vollem Körpereinsatz rassistischen Polizisten entgegen. Ich verlange nicht von dir, dass du das tust, ich sage nur, du kannst sie fragen.
Meine simple Antwort darauf ist folgende: Bilde dich weiter über die Mitschuld deines Landes am Genozid, das Niedertrampeln grundlegender Gesetze und Recht und überlege dir, wie du dein Privileg nutzen kannst, um jemandem anderes was Gutes zu tun. Schreib etwas, sag etwas.
Nein, ich werde es dir noch einfacher machen. Wenn du eine schöne Zeit hast, stelle am Ende des Tages niemandem, dessen Existenz von der Staatsräson Deutschlands bedroht ist, die Frage, ob er sich über die Deutschen ärgert, die den systematischen Rassismus ignorieren, dem Menschen wie ich ausgesetzt sind.
Wie wäre es, wenn du Dich nicht über eine ehrliche Antwort ärgerst? Wie wäre es, wenn du nicht von mir erwartest, dass ich mich bemühe, niemanden durch die Wahrheit über dein Land unangenehm zu berühren?
Und zu Deiner letzten Frage, warum du Dich angegriffen fühlst, wenn ich das deutsche System kritisiere, obwohl du es selbst oft tust: Ich weiß nicht genau, warum das bei dir so ist, aber ich habe ein paar Leute getroffen und glaube, ihre Gründe zu verstehen. Vielleicht hilft dir das, darüber nachzudenken. Der erste Grund ist Arroganz und elitäres Denken: Wie kommt jemand aus einem nicht-demokratischen Land dazu, ein System zu kritisieren, das doch so gut funktioniere? Natürlich habe das System seine Schwachstellen, aber was wüssten "die" schon über Demokratie? Die Deutschen hätten hart daran gearbeitet, dieses System zu entwickeln – und dieses System zu kritisieren, sei weder gebildet noch nuanciert.
Ein weiterer Grund, der meiner Meinung nach näher an der öffentlichen Meinung liegt, ist folgender: Wenn die Kritik von Außenstehenden tatsächlich berechtigt ist, dann gibt es noch viel zu tun. Und wie du gesagt hast, möchtest du einfach dein Privileg genießen, ohne Dich mit dem Genozid in Gaza oder der lästigen Aufgabe befassen zu müssen, ein System komplett zu überarbeiten und völlig neu zu gestalten, weil es in seiner jetzigen Form nicht zu reparieren ist. Wie kann man eine rassistische, faschistische Polizei stoppen, wenn man sich nicht die Zeit dafür nimmt?
Das Hauptproblem der Deutschen, die sich nicht von ihrer Indoktrination befreit haben, besteht darin, dass sie sich ihre Erlösung nicht selbst erarbeitet, sondern geerbt haben. Die Kritik am und die Verurteilung des derzeitigen Systems ist ein Angriff auf ihr Erbe. Es ist ein Angriff auf ihre Erlösung, die sie so verzweifelt brauchen. Erlösung für sich selbst, für ihre Gesellschaft und für ihre Vorfahren, die eines der größten Verbrechen unserer modernen Zeit begangen haben. Wenn es sich nicht um eine kleine Reform handelt, wenn das System einfach nur den Aufstieg des Faschismus wiederholt, dann haben sie eine Lüge gelebt, und ich glaube nicht, dass die Menschen diese Art von Anschuldigungen gutheißen.
Es bedeutet auch, dass man an seiner eigenen Erlösung arbeiten muss, von Grund auf, in einer Gesellschaft, die entschlossen dazu ist, ihre Vergangenheit zu ignorieren.
Ich frage mich, was einen Deutschen, der in seinem Land heute vor der Realität des Völkermordes fliehen will, von einem Deutschen der 1930er Jahre unterscheidet, der ebenfalls weggesehen hat? Was macht ein Deutscher von heute anders, während die Palästinenser:innen täglich entmenschlicht werden, sowohl in Israel als auch in Deutschland. Wenn sie PalästinenserInnen und ihre Verbündeten in deutsche Gefängnisse schicken, wird es zu spät sein.
Niemand will in einem kaputten System leben, die Menschen wollen in einem System leben, das Fehler hat, aber "reparierbar“ ist. Schließlich musst du dich mit einem Deutschland von heute auseinandersetzen, das auf der einen Seite einen Genozid leugnet, aber gleichzeitig Holocaust-Leugner bestraft. Niemand möchte, dass etwas, das ihm am Herzen liegt, so tiefgehend kritisiert wird.
Die Liebe zum System ist in der deutschen Gesellschaft verankert. Diejenigen, die sich als „links“ beschreiben, haben keine Grenzen überschritten, sondern sind in Gemeinschaften aufgewachsen, die sie zu Mainstream-Linken gemacht haben, die „das Linke“, das sie denken durften, nicht in Frage stellen müssen, die nichts zu verlieren haben, wenn sie sich als Progressive ausgeben.
Die LGBT-Community und die Juden in Deutschland gerieten mit dem System in Konflikt, als sie gegen den Genozid protestierten, und wurden daraufhin erneut dämonisiert und angegriffen. Ich frage mich, ob das den Menschen keine Angst machen sollte, aber nein, die Leute reden sich ein, Palästina sei die Ausnahme, aber alles andere würde gut funktionieren. Was für eine kognitive Dissonanz. Medien und Staat erfüllen einem den Wunsch, dass du nicht belästigt wirst und sie machen sich nicht mal mehr die Mühe, die Nachrichten über die Proteste zu manipulieren, sie ignorieren sie einfach ganz, um einen damit nicht zu belasten. Das Problem im Moment bin ich und meine Existenz in der deutschen Gesellschaft, ich und viele andere, die sich dafür abrackern, die Rundfunkgebühren zahlen, um unsere Dämonisierung zu finanzieren und die Steuern zahlen, mit denen diejenigen getötet werden, deren einziges Verbrechen es ist, auf einem Stück Land zu leben, das eine Gruppe von anderen Menschen wollte, und deren Ermordung die deutschen Verbrechen reinwaschen soll.
Ich bin erstaunt darüber, wie weit Deutsche gehen, um Gaza zu ignorieren. Sie hoffen, dass es bald vorbei ist, damit sie ihr Leben weiterführen können. Und ich meine damit nicht, die gehirngewaschenen Deutschen, die keine Ahnung haben, was vor sich geht, und alle Palästinenser:innen für Terroristen halten. Sondern ich spreche von Deutschen, die wissen, dass ein Völkermord stattfindet und die befürchten, sie könnten ein klitzekleines Privileg verlieren, wenn sie sich zu Wort melden.
Ich habe lange darüber spekuliert, warum du das Bedürfnis verspürt hast, mich nach deinem eigenen Schweigen zu fragen, obwohl ich dir nichts vorgeworfen habe, um dich zu beschuldigen, sondern einfach keine Anstalten gemacht habe, meine Erfahrungen mit Deutschland zu leugnen. Ich denke, das liegt daran, dass dich innerlich eine Frage quält: „Ist es möglich, ein guter Mensch zu sein und Gaza dennoch zu ignorieren?“
Vielleicht hast du erwartet, dich besser zu fühlen, wenn dir eine nicht-weiße, nicht-deutsche Person sagt, dass Ignoranz in Ordnung ist, weil du nicht genug darüber weißt. Vielleicht hast du erwartet, dass ich dir aus Höflichkeit sage, dass mir das Thema sehr am Herzen liegt, aber dass du Dich nicht damit beschäftigen musst. Aber die Wahrheit ist, dass wir beide die Antwort auf diese Frage kennen. Die Antwort lautet: Nein! Nein, du kannst Palästina heute nicht ignorieren und trotzdem ein guter Mensch sein. Es ist nicht nur ein Lackmustest für die gesamte Weltpolitik, sondern ein viel größerer Test für deine eigene deutsche Geschichte.
Diejenigen, die Palästina ignorieren, sind schlichtweg die gleichen Menschen, die Nazi-Deutschland ignoriert und zugelassen haben, und „Nie Wieder“ wird zur leeren Floskel, mit der die Verbrechen deiner deutschen Vorfahren zu reingewaschen werden. Die endgültige Antwort ist, dass du kein guter oder progressiver Mensch sein kannst, wenn du alles in deiner Macht Stehende tust, um Palästina und die deutsche Mitschuld am Völkermord sowie die deutsche Repression gegen jeden, der sich gegen den Völkermord stellt, zu ignorieren. Deine weiße Fragilität akzeptiert diese Schlussfolgerung nicht, aber ich bin mir nicht sicher, ob es überhaupt möglich ist, eine andere zu ziehen.
Diese Nachricht mag dich jetzt verletzen oder verärgern, aber ich hoffe, dass du in der Zukunft darauf zurückblicken wirst und wertschätzen kannst, wie sehr ich versucht habe, ehrlich zu sein. Besonders dann, wenn du eine Art "Aha-Moment" erlebst, der dir Klar macht, wie zutiefst unmoralisch die deutsche Rhetorik, die Handlungen und die Reaktionen gewesen sind.
Aber vielleicht könntest du dieses Schuldgefühl auch zukünftigen Generationen überlassen, so wie die vergangenen Generationen dir dieses Erbe überlassen haben.
With Love
Wael